Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Mittwoch, 9. Mai 2018

Das Huhn, der Mensch und die Wirklichkeit - Eröffnungsrede zur Austellung "Heilwig Jacob - Ein ROT dem Huhn" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung „Ein ROT dem Huhn“ von Heilwig Jacob fand statt im hühnerhaus.volksdorf.kunst, Mai 2018


Blick von der Kunst-Diele zum Hühnerhaus, Vernissage, Heilwig Jacob, Mai 2018

Die Netzhaut des menschlichen Auges verfügt über zwei verschiedene Arten von Lichtrezeptoren: die sog. Stäbchenzellen für das skotopische Sehen, das uns ermöglicht, verschiedene Lichtintensitäten wahrzunehmen, das also ein monochromes Hell-Dunkel-Bild erzeugt, sowie die sog. Zapfen, die das photopische Sehen, also die Farbwahrnehmung, ermöglichen. Von diesen Zapfen besitzen wir, wie alle anderen Säugetiere, drei verschiedene Arten. Diese Arten sind jeweils auf unterschiedliche Wellenlängen des Lichts ausgerichtet. Ihr Absorptionsmaximum liegt bei 455 Nanometer, also Blauviolett, 534 Nanometer, also Smaragdgrün, und bei 563 Nanometer, also Gelbgrün. Die Sensibilität des letztgenannten Rezeptors für lange Wellen reicht jedoch noch bis in den Rotbereich, weshalb er auch Rotrezeptor genannt wird.

Bei der Untersuchung des Sehsinnes von Vögeln, insbesondere von Hühnern, stießen britische und amerikanische Wissenschaftler auf mehrere Besonderheiten, die die Vögel deutlich vor den Säugetieren auszeichnen. Sie verfügen nämlich nicht wie wir über nur drei Arten von Zapfen, sondern über fünf. Einer davon reagiert auf Bewegungen, ein weiter auf Licht im ultravioletten Spektrum. Als eine weitere Eigenart wurde die besonders starke Reaktion auf die Farben Rot und Orange beobachtet.

Doch was fängt man mit einer solchen Information an? Ist sie lediglich ein weiteres, zusammenhangsloses Mosaiksteinchen, das wir in der Rumpelkammer des derzeit modisch gewordenen „unnützen Wissens“ abspeichern, um es als Kuriosität in einem Smalltalk hervorzuzaubern? Oder hat uns diese wissenschaftliche Erkenntnis mehr zu sagen, vielleicht sogar etwas über uns selbst?

Wenn wir von einer realistischen, bodenständigen oder pragmatischen Weltsicht sprechen, kommt uns schnell der Satz in den Sinn: „Ich glaube nur an das, was ich auch sehen kann.“
Nach dieser Maxime wird der Gesichtssinn zu einem unfehlbaren Prüfstein für die Wirklichkeit.
Natürlich haben wir uns inzwischen daran gewöhnt, daß es Dinge gibt, die man nicht sehen kann. Niemand würde mehr bestreiten, daß es Radiowellen gibt, Magnetismus oder Gravitation, ebenso wenig wie die Wirkung von ultraviolettem Licht geleugnet werden kann.
Sich aber tatsächlich vorzustellen, wie eine Welt aussehen könnte, in der einige dieser unsichtbaren Wellen für uns sichtbar wären oder in der andere Aspekte des Lichts eine Rolle spielen, scheint unmöglich zu sein.

Vielleicht reicht unsere Vorstellungskraft noch soweit anzuerkennen, daß sich die Welt in der Inneren Wirklichkeit eines Vogels anders darstellt als uns. Aber den Schritt zu machen und anzuerkennen, daß sich die äußere Wirklichkeit nicht mit unserer eigenen inneren Wirklichkeit deckt, fällt unglaublich schwer, denn wir haben gelernt, seit wir sehen, schmecken, riechen, hören und fühlen können, daß das, was sich unseren Sinnen mitteilt, die faktische, wirkliche Welt ist.

Das, was sich uns also mitteilt, wenn wir von einer grundlegend anderen Weltwahrnehmung Kenntnis nehmen, ist die Diskrepanz zwischen einer äußeren Wirklichkeit und ihrer inneren Repräsentation, die wir, sanktioniert durch Erfahrungsaustausch und Gewohnheit, für die umfassende, gegebene Wirklichkeit halten.
Man könnte es noch schärfer formulieren: Wir begreifen angesichts dieser Diskrepanz, daß wir unser inneres Bild der Wirklichkeit mit der äußeren Wirklichkeit verwechseln, daß wir das Modell für die Realität, die Karte für die Landschaft halten.

Wenn wir aber von einer äußeren und einer inneren Wirklichkeit sprechen wirft das wiederum die Frage auf: Wie kommt unsere Vorstellung von Wirklichkeit überhaupt zustande? Wie entsteht in unserem Bewußtsein das Bild dessen, was wir für unsere äußere Wirklichkeit halten?

Unsere Sinnesorgane, in diesem speziellen Fall die Augen mit ihren verschiedenen Rezeptoren, werden durch Impulse, also Lichtwellen von verschiedener Frequenz, angeregt. In den Rezeptoren werden die aufgefangenen Signale wiederum in elektrische Nervenimpulse umgewandelt, in einen digitalen Code.
Diese in vier verschiedene Nervenreize aufgespaltenen und codierten Impulse werden durch die Sehnerven über verschiedene Stationen in die Okzipitallappen des Großhirns geleitet, wo sie verarbeitet und wieder zusammengefügt werden und weitere Informationskaskaden und neurologische Prozesse auslösen.

In dem diese Impulse auf die neuroplastische Struktur unseres Gehirns einwirken und in den darin gespeicherten Mustern Resonanz erzeugen, entsteht in einem autopoietischen, emergenten Prozess unser Bild der Wirklichkeit - eine Konstruktion, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Weltwahrnehmung aufweist, wie sie im Höhlengleichnis von Platon dargelegt wird.

Diese ontologische Beschreibung des Zustandekommens unserer Vorstellung von Wirklichkeit, die auf die Forschungen der Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela zurückgeht, wird als radikaler Konstruktivismus bezeichnet. Ihr zufolge kann die Wirklichkeit nichts anderes sein als subjektiv und kann nur mittelbar wahrgenommen und in Annäherungen beschrieben werden.

Das bedeutet, wenn wir von Dingen sprechen, die außerhalb von uns geschehen, also von übereinstimmenden Wahrnehmungen, können wir nur reden von annähernd ähnlichen Reaktionen innerhalb unserer subjektiven autopoietischen Konstruktion, über die wir rückwirkend auf eine mutmaßliche, äußeren Wirklichkeit schließen können.

Nicht nur die Wirklichkeit, die das Huhn wahrnimmt, muß deshalb eine ganz andere sein, als die, die wir wahrnehmen, sondern wir wissen nicht einmal, ob nicht auch die Wahrnehmung eines Gesprächspartners sich lediglich auf der Ebene sprachlicher Konvention mit der unseren deckt. Vielleicht erscheint das, was dem einen als Rot gilt, dem anderen als Blau, denn schließlich haben wir uns lediglich darauf geeinigt, die nervliche Sensation auf Wellen mit einer Frequenz von über 600 Nanometer mit dem Terminus „Rot“ zu benennen. Es ist nur diese sprachliche Konvention, die uns suggeriert, wir würden dasselbe Erlebnis teilen.

Nun ist die Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt aber keine Einbahnstraße. Denn die innere synthetische Wirklichkeit zeitig wiederum Handlungsimpulse, die wir in die Außenwelt abgeben.

Nach der Filterung durch unsere beschränkten Sinne und der durch Wiederholung angeregten Umwandlung von Informationen zu neuroplastischen Strukturen, findet zum dritten mal eine Reduktion statt:
Diesmal durch unsere begrenzten Fähigkeiten, auf die Umwelt einzuwirken und uns zu artikulieren.

Besonders deutlich wird das in wissenschaftlichen Versuchsanordnungen, in denen, hervorgehend aus stark reduktionistischen Abstraktionen, Kleinst-Systeme in künstlicher Isolation geschaffen werden. Die Ergebnisse der Experimente, die in diesen unnatürlich abgekapselten Konstellationen durchgeführt werden, werden wiederum bereinigt, um alle ungewollten Einflüsse, die trotz der Isolation auf die Abläufe eingewirkt haben, aus dem Bild zu löschen. Und schließlich werden so die gewonnen Beschreibungen wieder auf größere Zusammenhänge extrapoliert.

Das Resultat: Die aus unserem bereits stark eingeschränkten Modell der Wirklichkeit abgeleiteten, künstlich isolierten Teilsysteme liefern uns die Interpretationsgrundlage für höchst artifizielle, stark reduzierte Formeln, die wir rückwirkend auf unbegrenzt vernetzte, von unüberschaubaren Wechselwirkungen bewegte Zusammenhänge übertragen, um daraus wieder Bestätigungen oder Korrekturen für unser reduziertes, abstraktes Weltmodell zu gewinnen.


Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018

In ihrer Ausstellung „Ein ROT dem Huhn“ hat sich Heilwig Jacob intensiv mit diesem Wechselspiel von Innen- und Außenwelt sowie der Konstruktion visueller Realität auseinandergesetzt.

Als offenkundigstes Element dient das Hühnerhaus selbst. Alle Fenster und Einstiegsluken sind weit geöffnet, sodaß der Außenraum des Gartens mit seinem Licht, seinen Düften und Farben in den Innenraum einfluten kann, wie in eine Kamera Obscura.

So wie von den Rezeptoren auf der Retina unserer Augen das Licht in seine Bestandteile aufgespalten wird, um erst wieder im Okzipitallappen zu einer Einheit zusammengefügt zu werden, finden wir auch im Inneren des Hühnerhauses die Farben des Gartens zerlegt auf Gazestreifen wieder, angeordnet in drei Gruppen, die die uns eigene Zerlegung des Lichts in Blau, Grün und Gelbgrün erahnen lassen. Dies ist der erste Schritt unserer Weltwahrnehmung, die erste Reduktion.
Aus der Installation können auch andere assoziative Komplexe abgeleitet werden, z.B. die Vorstellung eines Waldes als archetypischer Naturort, der mit seinem Wurzel- und Astwerk verwoben
ist, wie das Netzwerk der Dendriten unseres Gehirns.

Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018

So wie das Hühnerhaus dergestalt als Metapher für das menschliche Auge gelesen werden kann, so verhält es sich auch mit der Feuerstelle im Garten, die Teil des installativen Gesamtkonzepts geworden ist.
Bereits ihre kreisrunde Form erinnert an ein Auge, die Schwärze des verkohlten Holzes an eine Pupille.  Gleichzeitig ist das Feuer die stärkste uns bekannte Kraft der Transformation. Es ist in fast allen Religionen von zentraler symbolischer Bedeutung, es reinigt als Fegefeuer die sündigen Seelen, es ist der Ort des alchimistischen Mysteriums, der Ort von Tod und Wiedergeburt des Phönix, es fehlt in keinem Chemielaboratorium und wandelt in der Sonne Materie zu reiner Energie, die schließlich alles Leben auf der Erde hervorbringt. Die Gleichsetzung der Feuerstelle mit dem Auge verweist also auf den rätselhaften Transformationsprozess, in dem die äußere Welt umgewandelt wird zu einer inneren Realität.

Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018

So kehrt die Feuerstelle auch in der Diele wieder als Collage, in der die Begrenzungssteine auseinander geschnitten sind wie die Sehzapfen, ringförmig angeordnet um Spuren aus dem Garten ihrer Mitte, die in dieser Konstellation wirken, wie wissenschaftliche Proben, umringt von Sensoren in einem Labor.

Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018

Eine Zeichnung hingegen zeigt die Feuerstelle mit einem Dreifuß, der dazu dient, Kessel über dem Feuer zu halten. Hier jedoch trägt er keinen Hexenkessel zur Bereitung eines Zaubertranks, sondern eine Netzhaut.

Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018

Die Feuerstelle korrespondiert zudem mit dem Platz in der Diele, an dem ehemals der Kohleofen gestanden hat. Auf einer metallenen Platte, die den Boden vor Glutstücken schützen sollte, sind im Kreis ein weiteres mal auf kreisförmigen Scheiben Gartenfarben angeordnet. Dazwischen geben Spiegel den betrachtenden Blick zurück; ein Memento unseres Blinden Flecks, eine Erinnerung daran, daß wir es sind, die betrachten und das unsere Betrachtung uns eben so viel über uns selbst verrät, wie über das, was wir betrachten, vielleicht sogar noch mehr.
 
Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018
In der Diele des Wohnhauses begegnen uns auch die Gazestreifen wieder, die im Hühnerhaus noch als sorgsam isolierte Sinnesimpulse zerlegt sind. Dort jedoch hat bereits der Prozess der Konstruktion bereits stattgefunden: Die sorgfältig geschiedenen Elemente der Wahrnehmung sind wieder zu einem Ganzen gefügt. Doch das Gewebe der Streifen läßt trotz seiner Farbigkeit, die offenkundig der Natur entnommenen ist, keinen natürlichen Ort in all seiner Fülle wieder auferstehen. Die Künstlichkeit, der synthetische Charakter der Konstruktion ist evident.

Und schließlich finden wir in dem installativen Gesamtzusammenhang auch die artifiziellen Impulse wieder, die wir, abgeleitet aus unserem Modell der Wirklichkeit, an die äußere Welt abgeben: die zu roten und orangenen Plastikkugeln geronnen Farbschlüsselreize für die Hühner, die als synthetische Fremdkörper vor der Camera Obscura des Hühnerhauses planlos, wie Augenfutter, über den Rasen verstreut liegen.

Ein ROT dem Huhn, Heilwig Jacob, Ausstellungsansicht Hühnerhaus.Volksdorf 2018

Gelöst aus den wirklichen Zusammenhängen, in einem isolierten Teilsystem, ist es gelungen, die Vorliebe von Hühnern für diese Farben festzustellen. Doch bleibt uns die Ursache für diese Vorliebe rätselhaft, der komplexe, wirkliche Zusammenhang innerhalb der Weltwahrnehmung des Huhns, in dem seine Vorliebe für Orange und Rot einen Sinn ergibt, bleibt unzugänglich.

Also bleibt uns nichts anderes übrig, als diese isolierte Erkenntnis aus einer künstlich isolierten Versuchsanordnung, ebenso zusammenhangslos und formal so abstrakt und isoliert wie der Prozess ihrer Herkunft, in die Welt zurück zu geben.

Mögen die Hühner Nachsicht haben mit unseren tölpelhaften Versuchen, uns ihrer inneren Wirklichkeit zu nähern.


ⓒ Thomas Piesbergen / VGWort, Mai 2018






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen