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Donnerstag, 26. September 2013

Rezension: "Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet" von David Mitchell (2013)

Hier ist er nun also, der neue Mitchell. Hoch gelobt und mächtig dick (714 S.). Doch was kann der Autor, der vor allem durch seine Montagetechnik - mal virtuos (Wolkenatlas), mal etwas angestrengt (Chaos) - berühmt geworden ist, wirklich?

Gelungen in diesem umfangreichen Werk sind vor allem die plastischen und menschlichen Figuren, denen man gerne durch die teils etwas krude Handlung folgt, sowie der im hohen Maße exotische Schauplatz, der einem noch lange in Erinnerung bleiben wird: die niederländische Faktorei Dejima vor Nagasaki. Beeindruckend ist die historische Recherche, die Mitchell betrieben hat und durch die man eine gute Vorstellung der politischen Verhältnisse in Japan und Fernost um das Jahr 1800 bekommt. Und über weite Strecken schafft er es, Spannung zu erzeugen und zu überraschen.

Damit sind die positiven Aspekte allerdings schon genannt, denn auffällig sind vor allem die stilistische Fehlkonzeption und die dramaturgische Effekthascherei.

Stilistisch sind es vor allem die zahllosen, meist völlig unzusammenhängenden Detailbeobachtungen, mit denen fast alle Szenen gespickt sind und die nicht selten die Dialoge so sehr zerstückeln, daß man kaum noch die grammatikalischen Zusammenhänge der Äußerungen nachvollziehen kann, da regelmäßig mitten während eines Satzes jemand im Nebenzimmer anfängt Geige zu spielen oder ein dreibeiniger Hund irgendetwas anbellt. Das soll vielleicht japanisch anmuten ist aber einfach nur lästig.

Die auf dem Cover angekündigte „sprachliche Orgie“ sucht man ebenfalls vergeblich. Es erweckt eher den Anschein, als wolle Mitchell unbedingt einer entsprechenden Erwartungshaltung genügen. Und so ist der sonst eher angenehm schlichte und geradlinige Sprachduktus angereichert mit gewollt originellen Metaphern, die leider häufig nicht den Punkt treffen oder in manchen Fällen sogar völlig deplaziert sind.

Ein weiteres, echtes Ärgernis ist die erzählerische Unbeholfenheit mit der Mitchell nahezu alle Figuren im Laufe des Romans ihre Lebensgeschichte vorstellen läßt, die mit der Romanhandlung fast immer rein gar nichts zu tun hat. Vor allem auf den ersten 200 Seiten ahnt man schon, sobald eine neue Figur auftritt, daß Mitchell bald einen Anlass schaffen wird, sie erzählen zu lassen, wie und wann sie zum Marinedienst gepresst wurde etc.pp. und das über Seiten und Seiten. Besonders schlimm wird es, wenn nach 600 Seiten, während der Showdown bereits in vollem Gange ist, wieder eine Figur, die man bereits kennt, auf 10 Seiten ihre Lebensgeschichte ausbreiten darf - wiederum ohne den geringsten Nutzen für die Romanhandlung. Da blättert selbst der hartgesottenste Leser gerne mal weiter, bis man wieder zu den relevanten Ereignissen kommt.

Diese Fehler sind fraglos einer Schreibdisziplin anzukreiden, die sich Mitchell selbst auferlegt hat: Er befolgt stur ein Schema, ob es dem Stoff gut tut, oder nicht, aber wenigstens seine Lektoren hätten hier Aufmerksamkeit walten lassen müssen.

Dann gibt es andere stilistische Fehlgriffe, die wie aus dem Nichts auftauchen und wieder darin verschwinden. So bedient sich Mitchell der „allwissenden“ auktorialen Perspektive und nutzt von Kapitel zu Kapitel verschiedene Reflektorpersonen, deren Innenleben er in der 3. Person schildert. Doch plötzlich, nach gut 500 Seiten haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, einer völlig nebensächlichen Figur, die uns natürlich erst einmal mit ihrer Lebensgeschichte langweilt. Nachdem dieser Ich-Erzähler uns über den derzeitigen Zustand des Protagonisten aufgeklärt hat, verschwindet er wieder im Dickicht des Romans, um nie wieder aufzutauchen. Wieso, weshalb, warum? fragt sich der aufmerksame Leser. Was hat dieser Kunstgriff zu bedeuten und warum wird diese Figur, die für die Handlung komplett irrelevant ist, auf eine so auffällige Weise ins Rampenlicht geholt? Die Antwort bleibt Mitchell uns schuldig - oder auch nicht, wenn sie lautet: weil es ein guter Effekt ist. Aber es bleibt ein Effekt ohne Sinn und Verstand.

Und die Geschichte? Ein historischer Wirtschaftsthriller, angereichert mit wüstem und dick aufgetragenem Horrorbeiwerk, interessantem Kulturvergergleich und einer Liebesgeschichte, die eigentlich aus zwei Liebesgeschichten besteht, die beide nicht stattfinden.

Man könnte noch auf viel Fehlerhaftes und einige gelungene Abschnitte hinweisen, aber abschließend bleibt nur zu sagen: ein schwacher Roman.

Mitchell hat in einigen Abschnitten von „Chaos“ und dem „Wolkenatlas“ bewiesen, daß er ein Erzähler von erschreckend intensiver Vorstellungskraft und sprachlichem Feingefühl sein kann. Ich wünsche ihm von Herzen, daß er zu einer Form findet, die ihm erlaubt, sein Potenzial endlich voll zu entfalten und daß er nicht im Mittelmaß stecken bleibt und sich und uns weitere Dokumente des Scheiterns zumutet, wie diesen Roman.


Thomas Piesbergen, September 2013

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