Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Donnerstag, 14. März 2024

Neuer Kurs der Schreibwerkstatt ab dem 8. April 2024

Liebe Literaturfreunde*innen!

Am 8. April 2024 beginnt ein neuer Kursabschnitt 1 der Schreibwerkstatt "Das Textprojekt".

Der Kursabschnitt 1 "Von der Idee zum ersten Entwurf" wendet sich vor allem an Schreibanfänger*innen, aber auch an Schreibende, die ihre handwerklichen Fertigkeiten verbessern wollen.

Inhaltlich werden wir uns mit literarischen Grundkonflikten beschäftigen, mit der Gestaltung lebendiger Charaktere, dem Entwurf überzeugender und packender Handlungsverläufe und deren Struktur sowie allgemeinen dramaturgischen und handwerklichen Problemen.

Die Unterrichtseinheiten werden begleitet von Hausaufgaben, in denen die Teilnehmer*innen die erlernten Techniken ausprobieren können - gerne auch im Rahmen eigener, bereits vorhandener Projekte. Die so entstandenen Texte werden in der Gruppe besprochen. Alles darf, nichts muss...

ANMELDUNG per E-Mail: thomas.piesbergen (at) gmx.de

Die Themen im Einzelnen:

• Schreibmotivationen
• Authentizität und Fiktion
• Schreibmethoden
• Literarische Reduktion: Themen und Prämissen
• Konflikte und Transformation
• Charaktere: Protagonist und Antagonist
• Charaktere: Nebenfiguren und Dritte Kraft
• Charaktertiefe
• Charakterisierung
• A-, B- und C-Story
• Konflikte und ihre Entwicklung
• Akute Konfrontationen und verdeckte Konflikte
• Entwurf des Handlungsverlaufs: „Schicksalskurven“
• Gliederungsschemata: Dreiakter, Heldenreise, Regeldrama u.a.
• Struktur: Szenen, Schwellen, Spiegelungen, Motive
• Mechanismen der Eskalation
• Plot und Gegenplot
• Spannung erzeugen
• Das Setting
• Schauplätze
• Schreibhemmungen


Ort: Atelierhaus Breite Straße 70
Kursdauer: 2 Monate (8 x 2 Stunden)
Teilnahmegebühr: 200,- € / ermäßigt 160,- €
Zeit: Montags 19:30 - 21:30



Montag, 22. Januar 2024

Die Verflechtungen des Noch-Nicht-Gewordenen - Einführung in die Jahresaustellung "Andere Verhältnisse" des BBK Hamburg von Dr. Thomas Piesbergen


 

Für die diesjährige Ausstellung des BBK unter dem Titel „Andere Verhältnisse“ haben sich die Kurator*innen, angesichts einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät und erfüllt ist von dystopischen Narrationen, von dem Philosophen Ernst Bloch und seinem Begriff der Utopie inspirieren lassen.

Nach Bloch ist der Mensch ausgestattet mit einem Überschuss an nicht realisierten Möglichkeiten, die ihn als „Bedeutungshof“ umgeben. Er selbst befindet sich hingegen in dem „Noch-Nicht-Gewordenen“, das er als Mangel empfindet.
Das Empfinden dieses Mangels im Kontrast zu dem utopischen „Bedeutungshof“ des Möglichen bringt den Menschen jedoch, in Blochs Worten, „auf den Weg“. Diesen Weg bezeichnet er als „Tertium“, als ein Drittes Element zwischen dem Nicht-Mehr-Sein und dem Noch-Nicht-Sein. Das Tertium kann also nur verstanden werden als ein Prozess, der für Bloch, ausgehend von seinem marxistischen Hintergrund, immer mit der Idee des Fortschritts verbunden ist.
Mensch und Gesellschaft sind also „noch nicht bei sich angekommen“ und bewegen sich unentwegt auf einen Möglichkeitsraum zu, der sich in verschiedenen utopischen Gesellschaftsentwürfen, in der Musik, der Kunst und den Tagträumen abbildet. Diese antizipierten Möglichkeiten, die in Handlung überführen, nennt Bloch „konkrete Utopien“, die sich schließlich in einem „breiten, elastischen, völlig dynamischen Multiversum“ realisieren sollen.

Doch wenn Bloch dieses Tertium als einen Prozess des Werdens bezeichnet, ist es notwendig, sich mit der Bedingtheit und der Natur gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse eingehender zu beschäftigen.

Das hat vor allem der Soziologe Norbert Elias mit seinem Werk „Der Prozess der Zivilisation“ getan. Nach ihm verlaufen alle Bewegungen der menschlichen Kultur in Form sogenannter „Figurationen“. Darunter versteht er komplexe, prozessuale Geflechte von Beziehungen und Abhängigkeiten, die kulturelle Erscheinungen in einem Kontinuum von der individuellen Psychologie bis hin zu Staatsgefügen formieren.  Die gesellschaftlichen Manifestationen können niemals unabhängig vom Individuum gedacht werden, noch als statische Erscheinungen, sondern sie gehen hervor aus der Summe der Handlungen voneinander abhängiger Individuen. Weder ist es nach Elias möglich, sich Institutionen oder Staaten als eigenständige Strukturen, noch Individuen als isolierte Entitäten zu denken, denn der Einzelne, unabhängig von seinen Beziehungen zu anderen Individuen, ist für Norbert Elias nicht denkbar. Die Individuen konstituieren sich einzig und allein durch ihre dynamischen Beziehungen zueinander, ihre sog. Interdependenzen, und bilden so vernetzte Ensembles aus Selbstwahrnehmung und Menschenbild, Verhaltensregeln, Zeitgeist, Religionen, Hierarchien und sozio-ökonomischen Organisationsformen.Thomas Mann schrieb dazu in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen: „Die Persönlichkeit, nicht die Masse, ist die eigentliche Trägerin des Allgemeinen.“

So wie gesellschaftliche Institutionen formierend auf das individuelle Handeln wirken, ist der gesellschaftliche Kontext auch immer an dem originären individuellen Handeln ablesbar.
Dementsprechend bilden sich Figurationen sowohl auf der kulturellen Mikro- wie auf der Makro-Ebene ab, sowohl in der individuellen Psychologie und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten als auch in der Staatsform und können auf all diesen Ebenen beobachtet werden.

Hier offenbart sich nun die zeitgenössische Kunst als ideales Mittel, um sich den Figurationen unserer Gesellschaft und den darin verlaufenden, dynamischen Prozessen zu nähern. Denn die Kunst hat schon lange aufgehört bloß abbildend zu sein. Schon lange reflektiert sie das ganze Spektrum von ihren formalen und materiellen Bedingungen, ihrer eigenen Medialität und ihrem gesellschaftlichen Kontext, den Prozessen ihrer Aneignung und Verwertung, bis hin zu dem individual-psychologischen Blinden Fleck der Künstler*innen, der ihr Ausgangspunkt ist. All dies überführt sie in konkrete Handlung
So ist sie nicht nur ein idealer Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch das, was Ernst Bloch als „Heimat“ bezeichnet, denn für ihn ist Heimat kein Ort ist, sondern eine Perspektive, die Zielrichtung der Hoffnung. „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause.“.

Vor diesem theoretischen Hintergrund möchte ich nun die einzelnen künstlerischen Positionen dieser Ausstellung kurz beleuchten.

 

Jadranko Rebec, "Painted Puzzle"

Mit seiner Arbeit „Painted Puzzle“ verwirft Jadranko Rebec gleich mehrere der traditionellen Vorstellungen, was Kunst sei. Zunächst kehrt er sich ab von der Vorstellung des vollendeten Kunstwerks. Das „Painted Puzzle“ befindet sich seit 2019 in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess, es ist ein Stück Work-in-Progress und die Interaktion von Künstler und Werk kann präzise mit dem Nicht-Mehr-Sein und dem Noch-Nicht-Sein der Bloch’schen Terminologie bezeichnet werden. Doch es ist nicht nur auf dieser Ebene unvollendet. Das Noch-Nicht-Gewordenen setzt sich fort auf der Ebene der Rezeption, denn durch die Möglichkeit, die einzelnen Bildelemente zu bewegen, ist das Werk nicht nur für den Künstler stets unvollendet, sondern auch für die Rezipient*innen, die selbst die Beziehungen der einzelnen Bildelemente ändern können - und sollen. Erst wenn die unbegrenzten Möglichkeiten der Anordnung des Painted Puzzles aktiv erforscht werden, tritt das Werk in einem stetigen Formierungsprozess ganz zutage.
Diese Beziehung zwischen Betrachter*innen und Werk stellen zugleich die grundlegenden Figurationen kulturellen Konsums und dessen Hierarchie in Frage. Die Betrachter*innen, denen üblicherweise verboten ist, Ausstellungsstücke zu berühren, werden hier konkret dazu aufgefordert, und überwinden dadurch ihre hierarchische Position als bloße Konsument*innen. Sie selbst werden schöpferisch aktiv und vervollständigen das Werk durch ihre Beteiligung. Dadurch relativieren sie die hierarchiegenerierende Urheberschaft des Künstlers. Wir erleben eine utopische Demokratisierung der Kunst.


Jaques Sehy, "Alles Banane"

Auch Jaques Sehy bricht mit seiner Arbeit „Alles Banane“ aus dem traditionellen Bezugsrahmen der Kunst aus, in dem er alte Bananenschalen als Material nutzt. Dabei entstehen Kompositionen, die an Kalligrafien oder abstrakte Tuschzeichnungen erinnern.
In dem er den Bezugsrahmen ändert, führt er eine kulturelle Umdeutung herbei. Etwas, das sonst lediglich als Abfall wahrgenommen wird, wird einzig und alleine durch den Umstand der Ausstellung zu einem Kunstwerk. In der Bloch’schen Terminologie könnte man sagen, dass Sehy durch die Präsentation der Bananenschalen deren sonst unsichtbaren Bedeutungshof konkretisiert und sichtbar gemacht hat, sowie den Prozess, der dazu notwendig war.


Martin Conrad, "Wie sie die offene Ebene / Der schlafende Apoll"

Für Martin Conrad wiederum steht der intuitive Werkprozess, in dem sich die konkrete Utopie offenbart, im Vordergrund. Er lässt sich nach einem ersten, vom Unbewussten ausgelösten Gestaltungsimpuls leiten, von den Leerstellen zwischen den Bildelementen, und entwickelt seine Arbeiten in einem ergebnisoffenen Prozess von Konstruktion und Dekonstruktion. Für die Arbeit „Wie sie die offene Ebene / Der schlafende Apoll“ ließ er sich inspirieren von dem Bild „Der schlafende Apoll“ des Renaissancemalers Lorenzo Lotto. Während der Gott im Wald träumt, tanzen die nackten Musen auf einer Wiese im Hintergrund. Zu seinen Füßen sind deren farbige Kleider ausgebreitet.
Im Sinne Blochs, der auch den Tagtraum zu den konkreten Utopien zählt, können wir die umgedrehte Leinwand, die das Zentrum der Arbeit bildet, als den von Apoll herbeigeträumten Möglichkeitsraum lesen, aus dem die Arbeit suksessive hervorgegangen ist und der sich auch in der Vorstellung der Betrachter*innen öffnet, die sich fragen mögen, was sich auf der Vorderseite der Leinwand verbirgt.


Lena Oehmsen, "Winterlandschaft"

Lena Oehmsen, "Waldlandschaft mit See"


Lena Oehmsen hingegen setzt sich ganz konkret mit den Interdependenzen ihrer persönlichen Lebenssituation und den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs auseinander, sie weist auf einen faktischen Mangel hin, also auf etwas Noch-Nicht-Gewordenes, und setzt die daraus erwachsende konkrete Utopie in ihrem künstlerischen Prozess um, mit dem sie schließlich durch Sichtbarmachung des Mangels dazu beitragen will, denselben in einem möglichen künftigen, untopischen Szenario zu überwinden. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes musste sie mit der Tatsache umgehen, dass, wie Larissa Kikol schrieb, einem alkoholkranken Künstler immer noch mehr zugetraut wird, als einer gesunden Künstlerin mit Kind.
Anstatt, wie oft üblich, ihre Elternschaft möglichst unsichtbar zu machen, rückt sie sie ins Zentrum ihres Kunstschaffens. So basieren die Graphen ihrer „Winterlandschaft in Berlin“ auf den Fieberkurven ihres Sohnes im Verlauf eines Winters.
Die „Waldlandschaft mit See“ wiederum entstand aus der Aufzeichnung ihrer nun dramatisch fragmentierten Arbeitszeiten. Für diesen isolierten Werkzusammenhang scheint die Verwirklichung der konkreten Utopie geglückt, doch für die Figuration des noch immer patriarchalisch geprägten Kunstbetriebes, in den das künstlerische Konzept hinein wirken soll, muß leider nach wie vor gelten, dass er vorwiegend im Noch-Nicht-Gewordenen steckt.

Während Ernst Bloch die Realisierung der konkreten Utopien immer als einen zielgerichteten Fortschritt begreift, lehnt Norbert Elias diese Idee ab, ebenso wie der von ihm beeinflusste Soziologe Anthony Giddens. Beide gehen vielmehr davon aus, dass die Handlungen der Vielen auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene Interdependenzgeflechte und damit kulturelle Erscheinungen und Strukturen hervorbringen, die nichts mit den Absichten der Individuen zu tun haben müssen. In diesem Sinne kann man die „Erfindungen für eine bessere Welt“ von Stefan Oppermann lesen.
Auf seinen Zeichnungen sehen verschiedene Figuren, die durch ihre schematische Darstellung als über-persönlich verstanden werden können. Sie sind jeweils mit irritierenden, fremdartigen Objekten verstrickt, deren Funktion, Sinn und Unsinn obskur bleibt. Deutlich wird nur: Die hinter ihnen stehende Absicht, mit ihnen eine bessere Welt zu gestalten, ist offenkundig gescheitert. Mittels einer hochkomplexen Technik wurden hier Dinge erschaffen, die sich vollständig von den eigentlichen menschlichen Bedürfnissen gelöst haben, den Menschen aber dennoch in ihre Strukturen zwängen. Sie stehen für die gut gemeinte Utopie, die sich durch Entfremdung vom Menschen in eine höchst unbequeme Dystopie gewandelt hat.

 

Kai Brüninghaus, "Diffusionisten: A time capsule beyond reality"

Das Projekt „Diffusionisten: A time capsule beyond reality“ von Kai Brüninghaus greift ein derzeit virulentes Thema auf: das Generieren von Bildern mit KI. Im Internet frei zugängliche Bildgeneratoren vermitteln zahllosen Menschen erstmals das Gefühl, ihren visuellen Möglichkeitsraum aktiv erkunden zu können, Noch-Nicht-Gewordenes werden zu lassen und die Utopie künstlerischen Schaffens realisieren zu können. Zugleich wird die dystopische Seite dieser Entwicklung aufgezeigt, in dem die KI-generierten Bilder des Künstlers vermeintlich authentische Fotografien von technischen Errungenschaften in einer alternativen Vergangenheit zeigen. Die mediale Selbstreferenz wird unterstrichen durch die Präsentation der Bilder in einem altmodischen Fotoalbum. In diesem Zusammenhang erscheint die bildgenerierende KI selbst wie eine „Erfindung für eine bessere Welt“, die nicht nur eine Demokratisierung der Bildproduktion hervorbringt, sondern die zugleich tiefe Löcher in unser Verhältnis zu Bild und Wirklichkeit reissen wird.


Ursula Steuler, Hatun Demir, "Suche: Weises bettuch"


In der Arbeit „Suche: Weises bettuch“ von Ursula Steuler, die sie in Kooperation mit der Kurdin Hatun Demir erstellt hat, wird eine ganz konkrete Figuration behandelt, die Norbert Elias die Figuration von Etablierten und Aussenseitern nennt. Hatun Demir fertigt schon seit Jahren Näh- und Stickarbeiten für Ursula Steuler aus. Die traditionelle Handarbeit, die zudem weiblich konnotiert ist, wird ganz nach der Logik der genannten Figuration der Aussenseiter, von ihr selbst aber als minderwertig angesehen und im Privaten verborgen, da sie nicht aus dem Kontext der deutschen Kultur entstammt, an den sie sich anpassen möchte. Zugleich ist die Rolle der Aussenseiterin nicht frei gewählt. Dieser Ist-Zustand der Selbstabwertung, des Bloch’schen Noch-nicht-bei-sichAngekommenen“, nutzt Ursula Steuler, um mit dem mehrdeutigen Satzfragment „Ich würde“ die Frage nach einer individuellen Utopie zu stellen und damit den Möglichkeitsraum dessen, der den Satz vervollständigt, Gestalt annehmen zu lassen. Damit korreliert auch die formale Ebene. Etwas, das zuvor privat und unsichtbar war, nämlich eine abgewertete Handarbeit, wird öffentlich und findet zu einer Stimme.

Denselben Weg schlägt auch Bojana Fuzinato mit der Arbeit „Privat und /oder öffentlich“ ein. Bei ihr übertritt ein Stück Stoff, das ihre Großmutter gewebt hat, die Schwelle vom Privaten zum Öffentlichen. Hier betont die Wahl des Materials aber noch einen anderen Bedeutungsraum. Webarbeit ist traditionell eine häusliche, und deshalb in den meisten Kulturen eine weibliche Tätigkeit. Noch in Kontexten, in denen wir die progressiven Bestrebungen der Moderne beheimatet sehen, wie z.B. im Bauhaus, wurden Künstlerinnen wie Anni Albers, Gunta Stölzl oder Otti Berger in die sog. „Frauenklasse“ verbannt, in der uasschließlich gewebt wurde. Die Ergebnisse wurden nicht als Kunst betrachtet, sondern als dekorative Vorlage für die industrielle Produktion.
Indem Bojana Fuzinato Fetzen des als weiblich und privat gewerteten Materials mit Kunstharz fixiert und so zum Objekt werden lässt, behauptet sie dessen Wertigkeit als Kunstwerk und macht, durch den eingestickten Verweis auf ihre Großmutter, auf die Verhältnisse aufmerksam, die dem weiblichen Kunstschaffen die gerechtfertigte Anerkennung generell verweigern und dadurch Figurationen schafen, in denen die Frauen selbst die Bedeutung ihrer Arbeit oft nicht wertzuschätzen wissen.

Anna Bochkova richtet ihre künstlerische Befragung an das Verhältnis zwischen Mensch und Raum, das sich, in der Terminologie Pierre Bordieus als „strukturierende Struktur“ manifestiert, als ein rückgekoppelter Prozess, in dem der Mensch seine Umwelt gestaltet und von ihre gestaltet wird. Werkinhärent wählt sie für ihre Arbeit „Alien Commitment“ dabei nicht den Blick Blochs auf das Individuum, das Veränderungen herbeiführt, in dem es seine persönliche konkrete Utopie ausagiert, sondern sie bricht den gleichförmigen kulturellen Reproduktionsprozess, in dem sie Modelle eines spekulativen Raums schafft, der den Menschen dazu nötigt, andere, noch-nicht-gewordene Handlungsroutinen und Beziehungsgeflechte zu entwickeln. Da der Raum auch immer ein Teil non-verbaler Kommunikation ist und Beziehungen und damit die Figurationen der erlebten Wirklichkeit nur in der Kommunikationn in Erscheinung treten, erwirkt ein neuer räumlicher und materieller Kontext auch immer eine Veränderung der menschlichen Verhältnisse. Doch ob diese Verhältnisse schließlich utopischen oder dystopischen Charakter haben werden, lässt Anna Bochkova durch die Fremdartigkeit der Modelle ihres spekulativen Raums bewusst offen.


Anna Goldmund, „Homo absconditus"

Auch Anna Goldmund beschäftigt sich mit der Interdependenz von Mensch und Raum, wobei der Raum sowohl konkreter Handlungsanlass wie auch Metapher ist. Der Titel der Arbeit „Homo absconditus“, ist der Terminologie des Philosophen Helmuth Plessners entlehnt und bedeutet „der unergründliche“ oder „der verborgene Mensch“. Sie besteht aus einem hellen, perforierten Stoffkubus, der sowohl die Anmutung eines Kokons hat, als auch, seiner provisorischen Bauart wegen, an Notunterkünfte in Flüchtlingscamps denken lässt. Performativ bespielt durch die Künstlerin wird er zu einem Ort des Transits und der Transformation. Dabei kommt der Heimatbegriff Ernst Blochs ins Spiel, für den Heimat kein Ort ist, sondern die Zielrichtung der Hoffnung. „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause.“
Der Kubus wird zum ephemeren, durchlässigen Gehäuse des auf die utopische Heimat zudenkenden Menschen, der sich zugleich, stets im Werden befindlich, allen Fremdzuweisungen und statischen Definitionen entzieht.


Janine Gerber, "Papier Raumkörper"

Mit der Performance „Papier Raumkörper“ setzt Janine Gerber den Prozess zwischen Nicht-Mehr- und Noch-Nicht-Sein ganz konkret in Szene. Indem sie eine große Papierbahn entrollt, sich mit ihr bewegt und dadurch einen sich stetig wandelnden Raumkörper schafft, der im Sinne einer strukturierenden Struktur wieder auf ihren Körper und die gestaltenden Bewegungsabläufe zurückwirkt, entwirft sie nicht nur ein Bild des Menschen, der den eigenen Möglichkeitsraum erforscht. Sie veranschaulicht auch den Umstand, dass das handelnde Individuum in diesem Prozess zwar im Rahmen seiner Verhältnisse einer konkreten Utopie folgen kann und die Verhältnisse dadurch zu Nicht-Mehr-Seienden und Noch-Nicht-Gewordenen wandelt, dennoch aber in größerem Zusammenhang Erscheinungen und Strukturen hervorbringt, die von den ursprünglichen Absichten des Individuums entkoppelt sein können, wie Norbert Elias und Anthony Giddens es beschreiben. So vollzieht ihr Körper im subjektiven Erfahrungsraum gestische Abläufe im unmittelbar erlebten Raumkörper aus Papier; die Gesamtheit des Prozesses und dessen Ergebnis bleiben ihr aber, solange sie sich im performativen Vollzug befindet, verborgen. So entsteht ein Ganzes, das jenseits ihrer individuellen Absicht liegt.

Eine ganz ähnliche Bewegung dokumentiert die Arbeit „on-and-on“ von Anne Dingkuhn. Ihre Medien jedoch sind nicht Körper und Papier, sondern das nach Orientierung suchende Bewusstsein und die es umgebenden Zeichen- und Symbolsysteme, die Norbert Elias als das „Sozio-Symbolische Universum“ bezeichnet, das als fünfte Dimension die vier Dimensionen der Raumzeit ergänzt. Bei der Erkundung des Möglichkeitsraums dieser Sphäre geht Anne Dingkuhn nicht rational-analytisch vor, sondern fängt die Symbolströme in der intuitiven Zone des Tagtraums ein, in der sich nach Bloch ebenfalls die konkreten Utopien abbilden. Mit der Installation zwei sich stetig drehender Erlenäste, die auf neurale Dendriten anspielen, erleben wir, wie sich diverse Zeichen aus dem sozio-symbolischen Universum in immer neuen, zufälligen Konstellationen anordnen und sich vielleicht zu bedeutsamen Mustern verbinden, die neue Perspektiven öffnen können und vielleicht auch jenseits des subjektiven Denkraums in die konkrete Aushandlung einer neuen Utopie führen können.


Vivi Linnemann, "Seeing Green"

Vivi Linnemann wiederum beschäftigt sich in ihrer Arbeit „Thinking Green“ mit dem Phänomen der Formierung utopischer Denk- und Handlungsmuster auf gesellschaftlicher Ebene. Einerseits sind viele Handlungsweisen, die noch vor 40 oder 50 Jahren als utopisch galten, wie die Anerkennung queerer Identität oder umweltbewusstes Handeln, inzwischen von vielen Menschen informalisiert worden, also jenseits eines Reglements erfolgreich in die Sphäre persönlicher Verantwortlichkeit übertragen worden, oder, um in Blochs Terminologie zu bleiben, zu einer Heimat im Sinne einer zielgerichteten Hoffnung geworden; andererseits zeitigen diese Veränderungen auch eine Instrumentalisierung dieser neuen Mindsets. Unternehmen spiegeln vor, verantwortlich zu handeln und dem Individuum einen Teil der Verantwortungslast abzunehmen, wie z.B. bei der Praxis des Greenwashings. Trotz dieser gezielten Täuschung tragen auch sie dazu bei, unserer Sicht auf die Welt einen neuen Rahmen zu geben, auch wenn unsere Handlungsweisen oft noch in Kontexten verstrickt sind, die wir bereits als obsolet erkannt haben.
So bietet uns auch Vivi Linnemann einen Rahmen an: Er ist Grün wie die Hoffnung, dennoch stammt er offenkundig aus einer Welt, in der Plastik allgegenwärtig ist. Aber immerhin ist es recyceltes Plastik, das uns ein Fenster zu dem Noch-Nicht-Gewordenen öffnen möchte.

Nach der Prozesstheorie Elias’ korreliert ein Wandel der Verhältnisse auch immer mit einem Wandel des Individuums, da sich beide gegenseitig konstituieren. Folgerichtig werden Fragen zu der Rolle des Individuums in sich wandelnden Verhältnissen aufgeworfen: Wie weit kann der Mensch sich ändern? Ist diese Wandlungsfähigkeit Schwäche oder Stärke? Wann deuten wir die menschliche Anpassung als Sieg, wann als Niederlage? Kann sie Ergebnis des freien Willens sein, oder ist sie immer ein Sich-Fügen unter Zwang? Jared Bartz stellt dazu ein Ready-Made aus, einen Ast, der in einem unnatürlich anmutenden Winkel von nahezu 90° seine Wachstumsrichtung geändert hat. Und natürlich fragen wir uns: Welche Umstände haben zu diesem Wachstum geführt? Sehen wir vor uns ein Opfer dieser Umstände oder ein Zeichen der Hoffnung, dass ein Richtungswechsel ohne Verlust der eigenen Stärke möglich ist?

In den Graphitzeichnungen der Serie „Zwischenleben“ von Christiane Brey zeigt sich der diffuse Zustand menschlichen Selbstverständnisses auf der Suche nach einer neuen, utopischen und ganzheitlichen Beziehung zur Welt. Denn das Individuum versucht nicht nur sich in seinen persönlichen Beziehungen, seinen ökonomischen oder politischen Verhältnissen zu manifestieren, sondern es sucht auch nach einer ganzheitlichen und unmittelbaren Verbindung mit dem Sein, mit der Welt. So sehen wir ihre Figuren, durchdrungen von Himmel und Wolken, sich mal in das eigentlich Unerreichbare recken, mal von der Erdanziehungskraft gebeugt. Wir sehen die Füße fest auf dem Boden ruhen. Die Körper, selbst wenn sie sich im Ephemeren aufzulösen scheinen, sind von einer überraschenden Massigkeit. Diese Polarität gemahnt an das Menschenbild des Thomas von Aquin, der uns Menschen als im Wandel befindliche Wesen begreift, die sich, auf dem Weg zur christlichen Utopie des Paradieses, auf einer Stufe zwischen Tier und Engel befinden.

 

Miriam Breig, o.T.

Auch Miriam Breig wendet sich auf ihren „Tableaus des Anderen“ der Unsicherheit zu, die hervorgerufen wird durch ein wachsendes Bewusstsein für die nahezu unüberschaubaren Interdependenzen, in die wir verstrickt sind. Die Illusion der Kontrolle unserer Verhältnisse scheint schon zu scheitern an der Übermacht des Unterbewussten, das unseren Alltag mit seinen Bildern überformt und, wenn schon nicht dem Verstand, so doch dem Gefühl vermittelt, das Mensch und Welt ein Noch-Nicht-Gewordenes, ein Noch-Nicht-Bei-Sich-Angekommenes sind.

Während Ernst Bloch dem Menschen einen „Bedeutungshof“ der Möglichkeiten zuschreibt, geht der tschechische Literaturtheoretiker Lubomír Doležel, von dem sich Simone Kesting hat inspirieren lassen, von der Vorstellung aus, nicht nur wir, sondern unsere ganze Welt sei von unendlich vielen möglichen Welten umgeben.
Simone Kesting erforscht diese alternativen Welten zunächst zeichnerisch und sucht nach Spezies, die sich dort entwickelt haben könnten. Wären auch menschenartige Wesen die beherrschende Spezies, oder wären es Hohltiere, Stachelhäuter, Gliederfüßer oder Kolonien von Mehrzellern? Die Ergebnisse ihrer gezeichneten alternativen Evolution werden in Skulpturen umgesetzt, die bewusst mit irritierender Materialität spielen, um ihre Andersartigkeit zu betonen. Sie treten in den Rahmen der Ausstellung wie Botschafter aus einer Parallelwelt, die uns durch ihre bloße Anwesenheit verkünden: eine andere Welt ist möglich.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, Hamburg, Januar, 2024


















Sonntag, 15. Oktober 2023

Verhüllt von Licht und der Dunkelheit - Gedanken zu Adriane Steckhans Ausstellung „Velato“

Die Ausstellung "velato" wird bis zum 23. Oktober in der Galerie Morgenland in Hamburg-Eimsbüttel gezeigt. Ein virtueller Rundgang ist in der Kunstmatrix möglich (KLICK), in der die Skulpturen leider nicht wieder gegeben werden können.

Adriane Steckhan, velato_fragment_01


In seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ schrieb der tschechische Romancier Milan Kundera über Licht und Schatten: 

Das grelle, blendende Licht und das absolute Dunkel (...) markieren Grenzen, hinter denen das Leben zu Ende geht.“ 

Er spielt damit auf zwei metaphorische Zusammenhänge an, die schon seit langer Zeit mit dem Tod assoziiert sind.
Von der sumerischen Unterwelt heißt es im Gilgamesh-Mythos: „...Haus des Dunklen, Sitz der Irkalla, ... dessen Bewohner beraubt sind des Lichtes, ... sie dürfen das Licht nicht schauen, denn sie sitzen im Finstern... Über das Haus des Staubes ist Totenstille gegossen.
Im antiken Griechenland gab es das Bild vom Reich der Schatten als Wohnort der Toten. Auch das germanische Helheim, Domäne der Totengöttin Hel, wird als dunkler, nebliger Ort beschrieben. Das Unterirdische Totenreich der Maya, Xibalba, dessen Name „Ort der Angst“ bedeutet, lag in der unterirdischen Nacht der Höhlen verborgen. Und die hinduistische Totengöttin Kali ist selbst nachtschwarz. Man könnte diese Reihe von Beispielen beliebig fortsetzen. 

Die Verknüpfung von Tod und Dunkelheit scheint also universell. Und so wie der Tod das ursächliche Faktum Tremendum ist, die furchteinflößende Tatsache schlechthin, so ist auch die Dunkelheit fast immer angstbehaftet. 

Folgt man den Gedankengängen von Bruce Chatwin zu den Mechanismen von Angst und Aggression, die er in seinem Buch „Traumpfade“ entwickelt, liegt der Ursprung dieser Verbindung in der Vorzeit des Menschen begründet, denn in der Dunkelheit lauerte der Tod in Form wilder Tiere. Um sich vor der drohenden Gefahr zu schützen, mußten die Vormenschen imstande sein, mögliche Gefahren in der Dunkelheit zu ahnen, also Dinge in das Unsichtbare zu projizieren. So lauerte die Gefahr nicht nur faktisch in der Dunkelheit, sondern die Dunkelheit wurde in der Vorstellung schlechthin zur Wohnstätte des Bösen und Todbringenden. Als die Vormenschen lernten, das Feuer zu beherrschen, wurde dessen Licht wiederum zu einem Schutz vor Dunkelheit und Tod.
Auch wenn man dieser Herleitung nicht folgen mag, bleibt unbestritten, dass einerseits der Topos der positiv belegten Dunkelheit sehr viel seltener ist, als die allgegenwärtige und konkrete Angst vor der Dunkelheit, und dass andererseits die Dunkelheit ein wirksamer Auslöser für aufsteigende, oft beunruhigende Bilder ist. 

Doch in dem wir ins Dunkle spähen und Dinge ins Dunkle projizieren, geschieht auch immer ein Transfer unseres Selbst in die Zonen, in die weder das Licht noch unser Auge dringt. Entsprechend steht in der Archetypenlehre von C.G. Jung der Schatten für verdrängte Anteile unserer Persönlichkeit, für Aspekte, die wir als böse oder sündhaft markiert haben, für Aspekte, die wir nicht wahrhaben und nicht sehen wollen.
Für den italienische Psychohistoriker Luigi de Marchi ist es, im Gegensatz zu Jung, vor allem die Tatsache des Todes, die wir nicht ertragen können und deshalb verdrängen, womit die enge Verbindung von Dunkelheit und Tod ein weiteres mal belegt ist. Nach seiner Theorie des menschlichen Urschocks dienen nahezu alle kulturellen Vorstellungen und Hervorbringungen des Menschen in erster Linie der Todesabwehr, also der Verdrängung des Wissens um unsere eigene Sterblichkeit. In der Dunkelheit, die wir in uns selbst durch Verdrängung geschaffen haben, lauert also, allem anderen voran, unsere Todesangst.
Diese Anschauung korrespondiert mit der Haltung Blaise Pascals, der in seinen Pensées schrieb: "Wir rennen unbekümmert in den Abgrund, nachdem wir irgendetwas vor uns hingestellt haben, das uns daran hindern soll, ihn zu sehen.

Adriane Steckhan, Erdenrest_Fragment_02

Die Dunkelheit ist also nicht nur der Ort, den wir fürchten, weil wir darin Dinge ahnen, die uns den Tod bringen könnten, sondern sie ist auch der Ort, an dem wir furchteinflößende Aspekte der conditio humana vor uns selbst und in uns selbst verbergen.
Wenden wir uns nun dem Licht zu und folgen zunächst einem verstorbenen Alten Ägypter:
Das ägyptische Totenreich, das Duat, war in zwei Bereiche eingeteilt. Zuerst betrat man die Zone der Dunkelheit, einen unterirdischen Versammlungsort der Toten, an dem sie zahlreiche Prüfungen und schließlich das Totengericht bestehen mussten. Erst dann durften sie die andere Seite des Duat betreten, das Sechet-iaru, die blaue Ur-Flamme und ihr Licht, das dem irdischen Auge unsichtbar ist, um schließlich am Rande der Welt, wo sich Himmel und Erde treffen, als reine Lichtwesen in den Himmel der Götter aufzusteigen.
Für die europäische Überlieferung ist vor allem das Höhlengleichnis von Platon mit seiner Lichtmetapher bedeutsam. Dort finden wir das blendende Licht als Bild der letzten großen Erkenntnis. Die Neoplatoniker begriffen das Licht des Höhlengleichnisses als einen Aspekt Gottes. Beeinflusst von dieser Tradition ist für Thomas von Aquin das Licht gleichbedeutend mit der Erkenntnis Gottes beim Betreten des Paradieses nach dem Tod.
Mit dieser Vorstellung korrespondieren nahezu alle Beschreibungen von Nahtoderfahrungen, bei denen der Übergang vom Leben zum Tod als das Eintreten in ein überirdisches Licht visualisiert wird. Bereits Hieronymus Bosch malte die allgemeingültige Darstellung dieser Vision in seinem „Aufstieg der Seligen“. 

Das Licht ist also, ebenso wie die Dunkelheit, eine kulturell und psychologisch tief verwurzelte Metapher des Todes.
Doch was jenseits dieses Lichtes liegen mag, bleibt verborgen. Denn, wie schon bei Platon beschrieben, bleibt es ein blendendes Licht und erfüllt damit im Wesentlichen die gleiche Funktion, wie der Schatten.
Es verbirgt. 

Natürlich kennen wir das Licht auch in einem ganz anderen Zusammenhang: als das Licht der Erleuchtung oder das Licht der Vernunft, das Licht des Verstandes. Es durchdringt und macht sichtbar. Es löst die Dunkelheit und damit die Angst auf. Doch wenn wir dem Gedanken einer vollständigen Erleuchtung, oder besser Durchleuchtung, der Welt folgen, werden sehr bald Effekte deutlich, die das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken.
In seiner ästhetischen Schrift „Lob des Schattens“ wies Tanizaki Jun’ichirō darauf hin, wie vulgär und oberflächlich eine vollständige Ausleuchtung mache, wie die Dinge ihr Geheimnis und damit ihre Schönheit verlören, wenn man sie ganz dem Licht aussetze.
Diesen Gedanken greift Byun Chul Han gut 80 Jahre später wieder auf in seinem Essay „Transparenzgesellschaft“. In dem sich die Gesellschaft einem Transparenz- Wahn unterordnet und glaubt, alles sichtbar machen zu müssen, findet eine Pornographisierung der Bildwelten statt. Denn mit der Vorstellung, alles müsse sichtbar gemacht werden, geht der Glaube einher, alles sei auch sichtbar zu machen.
Andererseits werden die Bilder durch die quantisierte Messbarkeit des Erfolgs ihrer Zurschaustellung zunehmend nur noch anhand ihres Ausstellungswertes beurteilt. Bildproduzent*innen stehen also unter dem gesellschaftlichen und zunehmend internalisierten Druck, soviel Dinge wie möglich so erfolgreich wie möglich zur Schau zu stellen. Dergestalt durchdringt die Logik der Transparenz unseren Alltag und schließlich unsere Lebensführung.
Einerseits werden die Bilder durch ihre reine Masse bedeutungslos, andererseits verlieren sie durch die Annahme der vollständigen Abbildbarkeit der Wirklichkeit ihre Tiefe und Bedeutung. Sie werden auf ihre Oberfläche reduziert und verlieren, wie Tanizaki es ausdrückte, ihr Geheimnis und ihre Schönheit, die sich beide aus dem Ungezeigten und Ungesehenen nähren. 

Je mehr wir unsere Welt durchleuchten, je inflationärer wir Bilder produzieren und konsumieren, vor allem Fotografien mit ihrem Anspruch auf dokumentarische Authentizität, desto weniger sind wir also imstande, durch die so geschaffenen Oberflächen hindurch zu sehen und dem individuellen Bild eine tiefere Bedeutung zu geben. Noch während des Vietnamkrieges konnte eine einzige Fotografie zu einer gesellschaftsverändernden Ikone werden. Heute werden wir derart mit Bildern faktischen und fiktiven Grauens überflutet und können auf unendlich vielen Medienkanälen Gewalt und Elend, sowohl real als auch fiktiv, konsumieren, dass wir uns daran gewöhnt haben, die Gefühle, die wir eigentlich angesichts der erschütternden Bilder empfinden sollten, zu verdrängen. Die Bilder bleiben, aber die Reaktionen, die sie auslösen, finden unterhalb der Oberfläche unseres Bewußtseins statt. So wird also durch das penetrante Sichtbarmachen schließlich doch verhüllt.
Um diese Verdrängungsleistung überhaupt erbringen zu können und unsere Empathie- fähigkeit soweit herabzusetzen, dass uns Bilder von fremdem Leid nicht mehr zutiefst erschüttern, ist es notwendig, unsere Gefühle abzuspalten. Das wiederum geht einher mit dem Verlust unserer Selbstwahrnehmung. Denn nach dem derzeitigen Stand der Neurowissenschaften bestehen Gefühle aus der Wahrnehmung von Prozessen im Körper. Spiegelneuronen wiederum ermöglichen es uns, Gefühle einer anderen Person, die wir beobachten, im eigenen Leib nachzuvollziehen. Diese Funktionen müssen aber, angesichts der inflationären Zurschaustellung des Leids, unterdrückt werden
Durch unsere Routine der permanenten Abbildung aller nur möglich abbildbaren Dinge, verhüllen wir demzufolge schließlich die körperliche Welt der Empfindungen und Gefühle mit einer körperlosen, perfekt ausgeleuchteten Oberfläche. Wir blenden uns selbst und verdrängen mit der Inflation der Bilder die bedrohlichen Aspekte der Wirklichkeit und unsere dunkle Seite dazu. Der Psychoanalytiker Arno Grün nannte diesen Vorgang den „Verrat am Selbst“ und den „Verlust der Autonomie“. 

Mit ihrem aktuellen Werkkomplex „velato“ greift Adriane Steckhan präzise in diese komplexen Rezeptions-, Verdrängungs- und Konstruktionsprozesse ein.
Setzen wir uns mit den Arbeiten auseinander, begegnen wir zuerst einer lebendig strukturierten Oberfläche, einer Haut, die unverwechselbare Spuren von Bewegung zeigt und durch ihre Körperlichkeit dazu verlockt, sie zu berühren. Doch trotz des Pinselduktus’ der deutlich erkennbar ist, haben wir keine Malereien vor uns, sondern Fotografien, die sich sonst dadurch auszeichnen, unabhängig von einer individuellen Oberfläche zu sein und zu wirken. Sie sollen üblicherweise nichts anderes sein, als ein Fenster zu einem konkreten, authentischen Augenblick, dessen Licht eingefangen und reproduziert worden ist.
Die Reproduzierbarkeit des Fotos, die den sinnlichen Körper und die Einzigartigkeit des Abzugs negiert, wird durch die Materialität und die Individualität der Acrylpolymerhäute, die als Bildträger dienen, aufgehoben. Statt dessen haben wir singuläre und völlig gegenwärtige Bildwerke vor uns, die nicht dokumentarisch auf vergangene Ereignisse verweisen, sondern die selbst das Ereignis sind.
Die Art, mit der die Motive abgelichtet sind, widersetzt sich ebenfalls der Idee von Authentizität und Dokumentation. Aufgrund der Bewegungsunschärfen, die durch Langzeitbelichtungen entstanden sind, werden nicht die konkreten Dinge abgelichtet, sondern es werden mit ihren Lichtspuren eigenständige Farbräume, Tiefen und Bewegungen geschaffen, die eine ganz eigentümliche Ebene der Abstraktion öffnen, die das eigentlich Abgelichtete verhüllt. 

Adriane Steckhan, Bewehrung_Fragment_02

 Gleichzeitig werden die Bildereignisse durch Dunkelheit oder Helligkeit, Oberflächeneffekte und Transparenz aus der Kernzone des Wahrnehmbaren gedrängt. Derart irritiert versuchen wir, die wir es gewöhnt sind, in einer Welt des penetrant Sichtbar-Gemachten zu leben, die Motive, die sich im Licht und in der Dunkelheit verbergen, mittels unserer Vorstellungskraft wieder daraus hervor zu holen zu. Tatsächlich aber lassen wir Bilder entstehen, die in den Bereichen unterhalb der Oberfläche unseres Bewußtseins schlummern. Dieser schöpferische Prozess, zu dem wir genötigt werden, ohne es zu bemerken, ist wiederum angewiesen auf das Grundmomentum der Kreativität, nämlich die intuitive und emotionale Verknüpfung von geistigen Inhalten. Um aus den Ahnungen, die sich in der Bildtiefe verbergen, etwas Fassbares erstehen zu lassen, müssen wir also auf das emotionale Gedächtnis zurückgreifen, das aus einem unauflöslichen Gewebe von geistigen Inhalten und Körpererinnerung besteht. Wir müssen also auf das im Alltag abgespaltene, körperliche, emotionale Selbst zurück greifen. Und das, was wir aus dem Licht oder der Dunkelheit mittels unserer Vorstellungskraft bergen, sind genau die Inhalte, die wir sonst gewohnt sind, zu verdrängen. 

Genau diesen Effekt nutzte auch der Spätbarock-Bildhauer Guiseppe Sanmartino für seine Skulptur „Cristo velato“, von der Adriane Steckhan den Namen für eine neue Werkreihe und diese Ausstellung entliehen hat. Es handelt sich dabei um eine Darstellung des Leichnams Christi, der vollständig von einem dünnen Schleier bedeckt ist, wodurch der leichenhafte Eindruck der Figur drastisch verstärkt wird. Die Wirkung dieser Sichtbarmachung durch Verhüllung war damals so frappierend, dass unter Zeitgenoss*innen Sanmartios das Gerücht ging, er hätte einen echten Leichnam „marmorifiziert“.
Mit einer gewöhnlichen Darstellung des nackten, aufgebahrten Jesus’ hätte Sanmartino vielleicht Bewunderung für sein meisterliches Kunsthandwerk erregt, aber durch die Verhüllung nötigte er die Betrachter*innen zu einem imaginativen Akt, der wiederum eine emotionale Reaktion zeitigte, die weitaus tiefer ging. 

Nachdem Adriane Steckhan nun schon viele Jahre die genannten Mechanismen der Sichtbarmachung durch Verhüllung auf formaler Ebene erforscht hat, also die genannten Effekte von Licht, Dunkelheit, Oberfläche, Transparenz und Unschärfe, während sie auf der Motivebene vor allem Abrisslandschaften als Metaphern für Erinnerung und Verlust erkundete, wendet sie sich in jüngster Zeit auch der buchstäblichen Verhüllung als Motiv zu.
Ich möchte mich dabei auf drei konkrete Arbeiten beziehen. 

Adriane Steckhan, velato_03
 

„velato_03“ zeigt einen amorphen Schemen, der sich mit matter Helligkeit in einer undefinierbaren, braunschwarzen Finsternis zu manifestieren scheint. Er wirkt wie ein Spukgebilde, das durch seine Unfasslichkeit ein gewisses Unbehagen auslöst. Dabei handelt es sich um einen aufgebahrten Schädel aus der Goldenen Kammer der St.Ursula Basilika in Köln. Für restauratorische Zwecke wurde der Schädel in Plastikfolie eingewickelt.
Diese zusätzliche Information verleiht dem Bild vielleicht die Konnotation des Makabren, doch die beunruhigende Wirkung, die körperliche Präsenz der materiellen Aspekte des Bildes, die Verhüllung, die einem zunächst undefinierbaren Gegenstand eine immaterielle Anmutung verleiht und uns den Eindruck von etwas Jenseitigem, etwas Moribundem vermittelt, wirken unabhängig von dem Wissen um das konkrete Motiv.
Denn das Ereignis der Visualisierung und Kontextierung spielt sich in unserer emotional gesteuerten Vorstellungskraft, in unserem Körper ab. Das Bild wird von uns nicht nur rezipiert, sondern wir selbst müssen uns in die verschlingende Dunkelheit vorwagen und das Bild daraus hervor holen, es selbst vollenden. 

Adriane Steckhan, velato_02
 

Auch auf „velato_02“ sehen wir in der diesmal fast transparenten, geleeartigen Acrylpolymerhaut eine verhüllte Form. Die Überbelichtung löst ihre Umrisse im oberen Bereich auf und lässt die Form mit dem ausgelöschten Hintergrund verschmelzen. Das Licht scheint das Objekt tatsächlich zu Nichts zergehen zu lassen. Die Größe des abgebildeten Objekts entspricht den Maßen eines menschlichen Körpers, die Form und Größe des Bildträgers erinnert an die eines gläsernen Sarges. Das kollektive Bildgedächtnis ist dazu verleitet, das Motiv als einen verhüllten Toten zu deuten oder, kulturhistorisch chiffriert, als Darstellung Christi, wie sie uns von Heilig-Grab-Darstellungen oder der Grablegung bekannt ist, wie eben der Cristo Velato von Sanmartino.
Das umfassende und unspezifische Unbehagen, das uns angesichts der Verhüllung von „velato_03“ angefasst hat, wird hier von unserer Vorstellungskraft also zu etwas sehr viel Konkreterem ergänzt.
Tatsächlich handelt es sich um das Foto eines schlafenden Obdachlosen auf dem Vorplatz eines französischen Bahnhofs - ein Bild also, das man heutzutage so in nahezu jeder europäischen Stadt hätte aufnehmen können; ein Bild von der Sorte, die sich in unserem Alltag mehr und mehr aufdrängt und dabei immer mehr Verdrängungsaufwand erfordert, um sie nicht zu sehen.
Doch in dem wir selbst aktiv werden, um das Bild aus seiner Auflösung empor zu heben, wird etwas, das wir in der äußeren Welt bestenfalls an den Rand unserer Wahrnehmung oder sogar darüber hinaus drängen, zu einem Bild, das in unserem Inneren aufersteht, das wir im Fokus unserer Wahrnehmung mit dem Körper erfahrenen.
Zudem nutzt Adriane Steckhan ganz bewußt die kulturell eingeschriebenen Verhaltensspuren der christlichen Symbolik. Die im sakralen Zusammenhang erlernte Hinwendung zum geschundenen Leichnam Christi, wird durch die Adaption christlicher Darstellungsmuster umgeleitet auf den im Diesseits leidenden menschlichen Körper, der sich selbst versucht den Blicken zu entziehen und den wir gewöhnlich aus unserem Alltagsbewußtsein zu verdrängen versuchen. 

Adriane Steckhan, velato_skulptur_01
 

Mit „velato_skulptur_01“ wird ein weiteres Mal das Motiv des verhüllten Schädels ins Spiel gebracht. Ein Klumpen, dessen Größe und Form an ein menschliches Gehirn erinnern, ist eingewickelt in eine Acrylpolymerhaut, die durch warme orange und braune Farbtöne ein ledriges, ausgesprochen organisches Aussehen verleiht. An manchen Stellen wird die Haut von rostigen und verbogenen Bewehrungsstangen durchstoßen. Darunter verborgen ist ein Betonbrocken, ein Stück geborgenen Bauschutts von dem Abriss eines ehemaligen Kunstortes in Altona.
Die fotografische Vorlage stammt von einem Bild des Torsos der Künstlerin. In die Haut aus Acrylpolymer wurde also ein Bild einer tatsächlichen Haut übertragen.
Es ist schwer möglich, eine deutlichere Bildmetapher dafür zu finden, wie wir die Zerstörungen, die sich in der äußeren Welt unablässig ereignen, in uns selbst, in unserem Unterbewußten verkapseln. Gleichzeitig wird deutlich wie das, was im Inneren verborgen ist, die äußere Gestalt formt. Wir können all das, was wir fürchten, vor uns selbst und der Welt zu verbergen versuchen, aber die Oberfläche, die wir darüber legen, wird immer von den verborgenen Inhalten geformt.
Ein weiteres mal werden also die in uns verborgenen und verdrängten Tatsachen des Lebens spürbar und durch Verhüllung dem inneren Auge erst sichtbar gemacht. 

So gelingt es Adriane Steckhan uns mit ihren hochkomplexen und formal vielschichtigen Arbeiten an die blendenden und finsteren Grenzen zu führen, hinter denen das Leben zu Ende geht. Jenseits der Verhüllung durch Dunkelheit, Licht und Oberfläche lässt sie uns das Beunruhigende, das Abgespaltene, Verdrängte erahnen, auf das wir angewiesen sind, um unserem Leben Tiefe, Schönheit und Bedeutung zu verleihen. 


© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, Oktober 2023